Das Land der Scharfrichter
Das Land der Scharfrichter
— ein Märchen von Thomas Sonnabend
Es war einmal in einer fernen Zeit ein Land, in dem war der Beruf des Scharfrichters, der angesehenste und der bestbezahlte Beruf. Jeder kleine Junge wollte schon früh Scharfrichter werden und wenn ein Junge nicht Scharfrichter werden wollte, drängten ihn seine Eltern dazu. War es doch erstrebenswert, einen Scharfrichter in der Familie zu haben.
Damit die Scharfrichter immer genug zu tun hatten, brauchte man ganz viele Delinquenten und damit die Bürger zu Verbrechern wurden, wenn sie gegen die Gesetze verstießen, hat der König immer neue, absurdere und immer schwerer einzuhaltende Gesetze ersonnen. Es war zum Beispiel unter Androhung der Todesstrafe strikt verboten, sich zu verlaufen, allerdings war es auch verboten nach dem Weg zu fragen. Auch wurden immer neue Gesetze erlassen, die erst am nächsten Tag verkündet wurden und wenn die Bürger sagten, sie hätten von dem Gesetz nichts wissen können, sagte man ihnen, Unwissenheit schütze vor Strafe nicht und schlug ihnen den Kopf ab. Weil der König viel Geld benötigte um die Scharfrichter zu bezahlen, wurde auf alles Erdenkliche eine Steuer erhoben. Zufußgehen wurde besteuert, Sitzen wurde besteuert, Liegen wurde besteuert und Schlafen wurde besteuert; ja sogar Armut wurde besteuert. Wer seine Steuern nicht bezahlen konnte, wurde standrechtlich vom Leben zum Tode befördert; deswegen war immer ein Scharfrichter anwesend. Es gab ja auch genug Scharfrichter und die wollten beschäftigt werden, um weiterhin gut leben zu können.
Schon bald gab es jedoch keine Verbrecher mehr, da alle bereits hingerichtet worden waren. Da erweiterte der König kurzerhand die Palette der Straftatbestände und dehnte diese auch auf die Scharfrichter aus. Per Erlass musste fortan der Kopf der Delinquenten, sauber zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel vom Rumpf getrennt werden und wer das nicht exakt durchzuführen vermochte, wurde einem anderen Scharfrichter vorgeführt und dann wurde sein Kopf sauber zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel vom Rumpf getrennt. Da wurden die Scharfrichter wütend, sodass sie sich gegen den König wandten und ihm und allen Ministern, Staatssekretären, ja, dem gesamten Hofstaat bis hin zu den einfachsten Beamten die Köpfe abschlugen.
So leben die Scharfrichter im Land der Scharfrichter noch heute glücklich und zufrieden, wenn sie sich nicht gegenseitig die Köpfe abgeschlagen haben.
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